Ersatzverkehr,
eine urbane Intervention
Eine Produktion von Lajos Talamonti, Sophiensaele, HAU Berlin, FFT Düsseldorf im Rahmen von Theater der Welt, Stadtforum München
„Ersatzverkehr“ ist eine Bustour vom repräsentativen Zentrum der Stadt an ihre Peripherie und zurück. Stellen Sie sich vor, Sie nehmen an einer Stadtrundfahrt teil. Die Reiseleitung beginnt routiniert ihren Vortrag, beschleunigt, überschlägt sich, und Sie beschleicht das Gefühl, etwas geht nicht mit rechten Dingen zu. Ihr Gefühl ist richtig. Das, was Sie über die Stadt hören, ist nicht, was Sie draußen an sich vorbeiziehen sehen. Während die Reiseleitung noch die Sehenswürdigkeiten der Stadt beschreibt, fährt der Bus bereits durch innerstädtische Brachlandschaft. An einer abgelegenen Kreuzung wird sie zurückgelassen. Eine Mumie, Urmenschen, Beamte, Agents Provocateurs, betreten den Bus, für unbekannte Zeit als blinde Passagiere. „Doppelgänger“ und Doppelgänger von Doppelgängern besteigen den Bus und verwickeln die Reisenden in Betrachtungen über Macht, Architektur, städtische Utopien, verkorkste und geglückte Lebensentwürfe, die Herausforderungen des Zusammenlebens und des Alleineseins, des Daseins und Wegseins, darüber, wohin unser modernes Leben torkelt und wie sich dieser Schwindel in den Strukturen aus Stein, Stahl und Glas manifestiert. Ein Kaleidoskop von Figuren besteigt und verlässt einen Reisebus an verschiedenen Orten auf seiner Irrfahrt, ohne dass der Reisende erfährt, wie diese dort hingelangt sind oder jemals wieder wegkommen. Eine groteske, komische Irrfahrt. „Ersatzverkehr“ beseitigt die letzten Gewissheiten: wo ich bin; wohin ich zu gehören glaube; dass dies alles um mich herum zu meinem Nutzen geschaffen wurde und setzt sie neu zusammen.
Ersatzverkehr entwirft die Stadt als monumentales denk- und Mahnmal, das Verbindungen schafft und Verbackenes löst. In den Bruchlinien, zwischen den Absichten, kämpft sich das Leben aus dem Asphalt. Die Stadt als Kulisse, zusehends lebendig, sich einmischt und ihre eigene Rolle im Stück wahrnimmt. Alles darf bewundert werden und über alles darf man sich wundern.
Niemand ahnt, was ihm begegnen wird, wie, wann und wo die Reise endet. Und mancher, der seine eigene Stadt nicht wieder erkennt, lernt sie erstmals wirklich kennen.
Termine
2000 bis 2015
Credits
Team Hebbel am Ufer Berlin, Schwankhalle Bremen, Stadtforum München, FFT Düsseldorf (Theater der Welt), Transeuropa Hildesheim: Martin Clausen, Bettina Scheuritzel, Lajos Talamonti, Verena Unbehaun (Special Guest Berlin: Steffanie Frauwallner) | Team Hamburg: Martin Clausen, Steffi Höner, Lajos Talamonti, Special Guest Eva Diegritz | Team Schlachthaus Bern, Oldenburg (Pazz Festival), Theater der Stadt Heidelberg, Groningen: Nils Bovri, Martin Clausen, Lajos Talamonti | Team Lecce: Edoardo Ripani, Ketty Volpe, Lajos Talamonti, (Special Guest Werner Waas als Hund) | Team San Benedetto del Tronto Festival Mare Aperto: Enoch Marella, Edoardo Ripani, Lajos Talamonti | Team Kronstadt (Festival multucultural de teatru): Lokale Performer:innen, Martin Clausen, Lajos Talamonti
Mit besonderem Dank an all die namenlosen Busfahrer, die Backstagechaufeure, die uns sicher durch die unzähligen urbanen
Labyrinthe navigiert haben, die vielen Stadtkundigen, die uns in ihre Welt eingeführt haben.
„Betrachten Sie die Stadt. Sie ist eine Idee. Jedes Ding in ihr ist der Vorstellungskraft entsprungen. Alles an ihr ist erdacht und geschaffen. Alles um Sie herum ist Absicht.“
Presse
Fahrtüchtig
OLIVER HERWIG, Süddeutsche Zeitung, 22.07.2002 „…Und die Welt eine Attrappe, die im Abend versinkt. Schwankend bahnt sich Bus und Begleiter den Weg durch München. München? GasteigMüllerschesVolksbadRiegerpelzeStachusObelisk. Schon verliert sich die Reiseleiterin im Datenstrom. Dann geht sie ganz verloren. Und mit ihr die Orientierung. Die irrwitzige Fahrt im verrückten Reisebus zersägt das Stadtbild. Namen, die keinen Ort mehr bezeichnen, sondern nur noch Zustände. „Was macht uns so ruhelos streunen, uns so verzehren?“ Draußen wird’s dunkel. Wer verkehrt mit wem? Und was passiert? Je weiter sich das Spielmobil vom Stadtkern entfernt, desto loser werden die ursprünglichen Bindungen. Neue Geschichten entstehen. Die Akteure verschwinden in der Dämmerung. Wenn sie wieder auftauchen, stehen sie verwandelt da, verrückt. Regisseur und Stückeschreiber Lajos Talamonti versteht Ersatzverkehr als „Versuch, die eigene Stadt emotional zurückzugewinnen“. Das ist ihm hervorragend gelungen. Sein fröhliches Quartett zieht aus, die Metropole erzählend zu erobern.
Für dich hab ich Falkplanfalten gelernt
DENISE DISMER, Der Tagesspiegel, 06.07.2002 „Rechts leben, links abbiegen: eine theatralische Busfahrt durch Berlin
Die Stadtführerin beginnt ihren Vortrag, verhaspelt sich, lacht hysterisch – und während sie noch die Sehenswürdigkeiten beschreibt,
fährt der Bus bereits durch innerstädtische Wüsten. Berlin von seiner hässlichsten Seite: Mietskasernen in Einheitsgrau, die Brachlandschaft am Glaswerk Stralau, verlassene Plattenbauten mit gähnenden Fenstern. „Wir hätten links abbiegen müssen!“, raunt die Stadtführerin dem Fahrer zu. Sie läuft auf die Straße, orientierungslos in dem vom Wind zerfledderten Falkplan suchend, aufmunternd in Richtung Rückscheibe winkend. Der Bus fährt los, sie rennt hinterher, Autos bleiben stehen, Radfahrer kehren um. Die von den Sophiensälen koproduzierte Fahrt beginnt als Sightseeing-Tour und wird zur grotesken Irrfahrt. Eine Magical Mystery Tour durch den vergessenen Hinterhof der Berliner Stadtfassade.“
Gute Fahrt!
KATRIN PAULY, Berliner Morgenpost, 05.07.2002 „…Auch wenn wir uns beim Einsteigen wundern, dass die Reiseleitung nur einen Stadtplan aus Wien dabei hat. Was soll’s, Großstadt ist schließlich Großstadt. Im Rahmen des Festivals Theater der Welt ließ er seinen „Ersatzverkehr“ zunächst durch
Düsseldorf kurven und hält vor der Weiterfahrt nach München nun auch in Berlin.
Das mit dem Wiener Stadtplan macht sich schon bald bemerkbar: Die Reiseleitung versucht,
sämtliche Sehenswürdigkeiten ausgerechnet in der Schützenstraße zu entdecken. Spätestens aber, als in der Nähe des Checkpoint Charlie eine bandagierte Mumie um die Ecke rast, starrt die Stadt auf uns. Wir werden Mittäter, Statisten in einem Spiel, in dem Berlin selbst die Regie führt. Weil in der Großstadt die Individualität gegen die Konformität verloren hat, agieren die Schauspieler wunderbar selbstverständlich in einer Dramaturgie der Doppelgänger: Die Reise führt quer durch Friedrichshain, Hohenschönhausen und Lichtenberg und mit Vorliebe in die grauen Gegenden der Stadt. Aber Berlin ist in Berlin überall. Und deshalb ist der „Ersatzverkehr“ nicht nur eine herrlich groteske Irrfahrt, sondern irgendwie auch eine vielstimmige Liebeserklärung an eine Stadt, in der alles Versehen und Absicht zugleich ist.
Stadtrundfahrt, mal ganz grotesk
ISABELLE SIEMES, NRZ, 25.06.2002 – THEATER / FFT spielte im Bus, Zuschauer fuhren mit: ziellose Reise des modernen Menschen.
„Wir haben uns verfahren, ich steige kurz aus und informiere mich.“ Die Reiseleiterin marschiert mit einer Straßenkarte von Köln auf den Bürgersteig. Die Stadt als Kulisse befuhr der „Ersatzverkehr“, ein absurdes Theater-Stück im Bus mit dem Untertitel „und rechts die malmenden Irrfelsen“. Das passte, denn die Odyssee, inszeniert von Lajos Talamonti aus Berlin, führte durch öde Hotel-Schluchten und Industrie-Brachen entlang des westlichen Stadtrands. Mit der Premiere am Freitag gelang ein origineller Auftakt der Reihe „City Mapping“ vom Forum Freies Theater im Rahmen des Festivals „Theater der Welt“. An entlegenen Orten sammelt der Bus immer wieder Spieler ein und spukt sie an anderer Stelle aus. Etwa einen Animateur (Martin Clausen) im Hawaii-Hemd, der zu Keyboard-Rhythmen mit „Schwubapada“ inmitten blitzender Hotel-Burgen Schmalz-Schlager singt und süffisant erklärt: „2005 wird der Tourismus weltweit die größte Industrie sein. Stadtvisionen, schrill gestimmt. Die Monologe der Darsteller beziehen sich oftmals auf die vorbeigleitenden Areale. Wenn die zweite Reiseführerin (Bettina Scheuritzel) etwa mit schriller Stime Stadtvisionen am Medienhafen entwirft. Sie schwärmt von multifunktionalen Hochhausstädten, in denen sich „jedes Segment problemlos in ein Shopping-Center oder einen Wohncontainer“ umwandeln lässt. Als die Fahrt nach zwei Stunden am Forum Freies Theater endet, ernten die vier hervorragenden Schauspieler den verdienten kräftigen Applaus der Mitreisenden für ein ungewöhnliches Stück über Urbanität, das überzeugend die Schattenseite der Großstadt und der ziellosen Reise des modernen Menschen entwirft.
Irritation als Rezept
Schauspiel „Urban Lies sorgen in Heidelberg für Ersatzverkehr„
MHM
Mannheimer Morgen, 09. Oktober 2009 „…Bei allem Humor, der skurrilen Anziehungskraft der Performances im und außerhalb des Fahrzeugs (Lajos Talamonti als Reiseleitung, Martin Clausen greift als Odysseus-Epigone zum Keyboard, Niels Bovri steigt als Mumie zu, in klassischer Kaffeefahrt-Manier wird versucht, den Gästen Häuser – oder zumindest Elektrogeräte – zu verhökern) liegt gerade in der Schere zwischen Gehörtem und Gesehenem eine anrührende Poesie der Verunsicherung: Der Anreiz, Dinge zur Kenntnis zu nehmen, die der Blick ansonsten bestenfalls flüchtig streift, bald mit Vergessen straft. Fast ist das, als sähe man die Stadt zum allerersten Mal.
„…Ersatzverkehr darf gerne mehr gezeigt werden…“
Nordwest Zeitung 2008
Gefördert von
Gefördert aus Mitteln von Theater der Welt „Western West Germany“ und des Kulturamtes der Landeshauptstadt München