Fluchtpunkt: Alexanderplatz
bewegter Eintritt in die Klimazone
Alles bewegt sich – Menschen, Waren, Ströme versammeln und verteilen sich: An zwei Tagen eröffnen Klima-Botschafter*innen aus verschiedenen Teilen der Welt ihre Dependancen im Senderadius der Weltzeituhr. Aus ihren Biografien, Haltungen und Handlungsmuster leiten sie ihre eigenen Klima-Karten ab und legen sie über den weitläufigen Platz, der zum Fluchtpunkt von Klimagerechtigkeit wird. Der diskursiv-theatrale Stadtspaziergang legt mitten in der Konsumzone die Axt an ein Wirtschaften in Ausbeutungs- und Steigerungslogik. Eine Suche nach verbindenden Zielen im Dialog mit dem Wohin, eine Transformation in Laufdistanz.
Commissioned by German Climate NGO Deutsche Klimastiftung and Unabhängiges Institut für Umweltfragen theater director Lajos Talamonti and cultural scientist Jan-Philipp Possmann developed a unique conference format that combines personal encounters and lectures by Climate Ambassadors from six countries with an intense experience of the urban fabric of an international metropolis. The visitors stroll through one of the most international spaces of consumption and leisure in the world while listening to an account of urban existence in the era of Loss and Damages. In various encounters along the way, the visitors meet migrants from places like Haiti, Iran or Mexico who discuss the environmental situation in their country of origin and their personal migration history.
FLUCHTPUNKT: ALEXANDERPLATZ is the first project in a series of experiments to find new forms of climate communication and political engagement. For these projects we cooperate closely with NGOs, researchers and art institutions worldwide. As we enter a new era of climate change and climate change effects becoming palpable in our very surrounding and every-day lives, we need more local and culture sensitive approaches to address the challenges of mitigation and adaptation. Yet „Loss and Damages“ also brings questions of global climate justice to the fore, making it very obvious that climate change, like everything else, is at first a political and ethical problem. FLUCHTPUNKT: ALEXANDERPLATZ is our contribution to the current debate on climate justice and local-global interdependence.
Jan-Philipp Possmann Mai 2024
Am Ende von „Fluchtpunkt: Alexanderplatz“, einem vom Theater TD Berlin veranstalteten geführten Spaziergang durch die Großstadt, fasst der Regisseur Lajos Talamonti das Erlebnis so zusammen: „Heute hast Du das Beste gemacht, was so eine Großstadt zu bieten hat: Du bist anderen Menschen begegnet. Wie gut, dass es den Klimawandel gibt, oder? Sonst wärt ihr Euch vielleicht nie begegnet. Oder doch? Warum eigentlich nicht?“
Dass Begegnungen das beste an Städten sind, ist natürlich eine Behauptung. Und es ist eine kleine Utopie, nämlich dass wir uns einig wären, dass die ungeplante und nicht reglementierte Begegnung eine wertvolle Errungenschaft unsere Zeit darstellt. Sie ist jedenfalls enorm wertvoll dafür, dass wir politisch empfinden und demokratisch handeln können. Das gilt besonders dann, wenn es um Fragen geht, die unseren Alltag überschreiten, also bei globalen Fragen oder auch einfach bei Fragen, die gerade nicht mich und meine Freund*innen betreffen.
Im Moment deutet zumindest in der Bundesrepublik Deutschland alles darauf hin, dass die Wertschätzung und die Bereitschaft, einander zu begegnen und sich auszutauschen sinkt; trotz und gerade wegen der digitalen Kommunikation, die allgegenwärtig ist. Ich halte das für ein ernst zunehmendes Problem. Denn das Fatale im Moment ist, dass beides zusammenfällt: extrem vernetzte und weitreichende politische Probleme und extrem vernetzte und gleichzeitig isolierte Menschen, die immer weniger Lust haben, sich auf einander einzulassen. Das mag ursächlich zusammenhängen, oder einfach Pech sein. Jedenfalls können wir meines Erachtens über Klimawandelfolgen und Klimagerechtigkeit schlecht sprechen, wenn wir nicht international und intersektional sprechen.
Aus meinem eigenen Bemühen, Kulturwissenschaft und Klimaforschung in Projekten zu verbinden, weiß ich, dass das alles andere als selbstverständlich ist. In Deutschland ist bereits das Gespräch zwischen Wissenschaftler*innen verschiedener Disziplinen heikel, obwohl hier sämtliche Hürden wegfallen, denen wir sonst begegnen: Nationalität, Ethnie, Sprache, soziale Privilegien, Berufsbild – alles ist gleich. Aber als ich den Historiker Gerrit Schenk, der sich intensiv mit Katastrophen und Katastrophenbewältigung in der Geschichte beschäftigt hat, anrief, um mit ihm über die aktuelle Katastrophe des Klimawandels zu sprechen, antwortete er: „Ich hab mich schon gefragt, wann endlich Mal jemand deswegen anruft.“ Und das Problem ist ja nicht, dass irgendwer in der Klima- Szene bestreiten würde, dass Umweltzerstörung ein historisches Phänomen ist. Die überwiegende Mehrheit der Wissenschaftler*innen geht nur einfach davon aus, dass alles, was für ihre Wissenschaft relevant ist, in ihrer eigenen Disziplin passiert.
Darum, waren Lajos Talamonti und ich sehr dankbar für die Anfrage, ein Veranstaltungsformat zu entwickel für die Begegnung mit Menschen, die nach Deutschland geflohen sind und über den Klimawandel diskutieren wollen. Nicht alle Teilnehmer*innen des Programms „KlimaGesichter“, das im Rahmen der Nationalen Klimaschutzinitiative von der Deutschen KlimaStiftung und dem Unabhängigen Institut für Umweltfragen durchgeführt wird, sind vor den Folgen des Klimawandels geflohen. Aber alle haben danach die Möglichkeit ergriffen, ihre Geschichte und ihre Herkunft zu benutzen, um anders und vielleicht intensiver und effektiver in Deutschland über Klimawandel zu sprechen. Genau wie wir, geht das Programm „KlimaGesichter“ also davon aus, dass in der Begegnung und in der persönlichen Geschichte ein Potential steckt, das wir unbedingt nutzen müssen, wenn wir den Wohnort von geschätzt 200 Millionen Menschen in den kommenden 30 Jahren bewohnbar halten wollen.
Deswegen haben Lajos Talamonti und ich eine Veranstaltung entwickelt, bei der die Teilnehmenden sowohl die plötzliche Begegnung mit fremden Menschen erleben dürfen und dabei sehr viel Wissen mitbekommen, und bei der sie eingeladen sind, die vertraute Realität anders anzuschauen und zu erleben. Unter dem Titel „Fluchtpunkt“ findet die Veranstaltung ab Mai 2024 in verschiedenen Großstädten statt. Mit einer Tonspur auf den Kopfhörern laufen die Teilnehmenden dabei in Kleingruppen durch die „Konsumzone Stadt“. Die Tonspur sagt ihnen, wo es lang geht, und kommentiert und verfremdet die urbane Szenerie aus Betonbauten, Konsumwaren, Informationen und Menschen. An einer Stelle des Walks zitiert Lajos Talamonti den isländischen Autor Andri Snaer Magnason und sagt: „Stell dir vor, alle Nebeneffekte, die dieser Genuss produziert, wären auch hier auf diesem Platz versammelt, wären nicht aus der Konsumsphäre verbannt. Siehst du die Abfallberge, die Ströme verdreckten Abwassers, die rußgeschwärzten Fassaden? Siehst du die Verstörung, die diese Nebeneffekte verursachen?“ An einer anderen betreten die Teilnehmenden einen gewöhnlichen U-Bahn-Tunnel und Talamontis Stimme berichtet von Silicon-Valley-Milliardär*innen, die ihr Geld in unterirdische Bunkeranlagen investierten, um dort mit ihren Familien den Klimakollaps auszusitzen. Ausrangierte U-Bahntunnel eigneten sich dafür besonders gut.
An verschiedenen Orten im Stadtraum begegnen die Teilnehmenden Klimabotschafter*innen, Migrant*innen aus verschiedenen Ländern der Erde, die sie in ein Gespräch über Klimawandelfolgen, Fluchterfahrungen und politisches Engagement verwickeln. Die Geschichten reichen dabei von Riten der Massai in Tansania, über ökologisches Bauen im alten Persien bis zur Aufnahme in einer deutschen Flüchtlingsunterkunft. Sie springen zwischen Fantasie und Realität hin und her, sind manchmal hoch emotional und privat, ein anderes Mal absurd verfremdet oder unverständlich.
So haben wir versucht, den Klimawandel von einem abstrakten Problem, das überall und nirgends ist und gleichzeitig zu schnell und zu langsam, zu einem Teil des Alltags zu machen. Der politisch- wissenschaftliche Diskurs findet in „Fluchtpunkt“ nicht in den bekannten, dafür reservierten Orten und Formaten statt. Stattdessen sind wir der Unberechenbarkeit und Ungeschütztheit der Begegnung an einem Ort ausgesetzt, den die Soziologin Lyn Lofland einmal treffend als „Welt der Fremden“ bezeichnet hat. Dieser Raum, die Stadt, ist für uns so etwas wie der Ort von Politik überhaupt. Und zwar von Politik in ihrer rudimentärsten, am Leichtesten verständlichen und eigentlichen Form: Nämlich als andauernde Verhandlung darüber, was für alle o.k. ist und was nicht.
In der ersten Version von „Fluchtpunkt“ für den Alexanderplatz in Berlin, bewegte sich der Spaziergang gedanklich und geografisch um das Denkmal einer vergangenen Utopie: Die Weltzeituhr, ein Denkmal aus DDR-Zeiten, das die weltweite Solidarität der sozialistischen Bewegung zeigen sollte. Heute erscheint das Denkmal mit seinen verschiedenen Uhren, Pfeilen und Städtenamen, die alle nicht zusammenzupassen scheinen, vollkommen unverständlich und abstrakt. Wer auf der Weltzeituhr in Berlin herausfinden will, was die Uhr politisch geschlagen hat, der ist restlos verloren. Denn es gibt sie nicht, die eine Zeit, genau wie es „den Klimawandel“ in den verschiedenen Lebensrealitäten von Menschen nicht gibt. Im Text heißt es dazu: „Dein Morgen hier ist das Heute in Kalkuta, die Geflüchteten aus Bangladesh, die heute in Venedig leben, werden morgen in einem Venedig aufwachen, das sie in Bangladesh hinter sich gelassen haben. Norditaliens Heute ist Schwedens Zukunft. Dar-el-Salam heute ist Almeria morgen.“
Es ist also eine Lüge, zu sagen, es sei fünf vor zwölf. Zumindest ist es grob vereinfachend, und diese Vereinfachung ist tödlich. Denn sie führt dazu, dass wir die Probleme, die unser Konsum seit jeher verursacht hat, gar nicht erkennen können. Denn wir schauen an der falschen Stelle, nämlich hier, wo weiterhin alles ziemlich angenehm ist. Dort, also in den Gegenden, die die Folgen des Klimawandels jetzt in voller Härte spüren, wie Pakistan oder Haiti, war aber in den deutschen TV- Nachrichten immer schon alles extrem und tendenziell eine Katastrophe. Und selbst dort, wo Menschen an den Folgen sterben, trifft es eben nicht alle und nicht zur gleichen Zeit.
Die Wahrheit wäre also zu sagen: Auf Tuvalu oder in Florida – also nicht bloß in Ländern mit geringem Bruttoinlandsprodukt – ist es fünf vor zwölf. Und dort kommt es jetzt sehr darauf an, ob
Du eine Schweizer Luxusuhr am Arm trägst oder gar keine Uhr besitzt. Bei uns in Berlin dagegen ist es vielleicht elf Uhr, oder bei uns tickt keine Uhr, weil die Klimawandelfolgen sogar angenehm sind oder weil unser Staat in der Lage ist, sie sehr gut abzufedern.
Es gibt keine Patentlösungen für das Problem Klimawandel. Selbst wenn wir eine globale Wirtschaftswende mit entsprechendem Konsumverzicht umsetzen könnten, würde es die kommenden 30 Jahre wenig ändern. Es bleibt uns also nur, unsere unsolidarische und zerstörerische Konsumlogik weiterhin zu benennen, und ihre Folgen dort, wo sie eintreten, zu bekämpfen. Deswegen sprechen wir heute von der Ära von „Loss and Damages“, also der Zeit, in der es darum gehen muss, solidarisch einander zu helfen, mit Verlust und Zerstörung umzugehen. Und gerade da, also bei den Loss and Damages, können wir ansetzen und wirklich produktiv werden, wirklich helfen.
Das setzt natürlich voraus, dass wir wirklich wissen wollen, wie die Folgen des Klimawandels aussehen. In einer Umfrage der Yale Universität in den USA vom vergangenen Herbst sollten über 1.000 Menschen angeben, welche Fragen sie Experten zur globalen Erderwärmung stellen würden. Durch alle politischen Lager und Gruppe hindurch war die Frage nach Lösungen am beliebtesten und fanden die Teilnehmenden die Frage nach den konkreten Auswirkungen mit Abstand am unwichtigsten. Dumm nur, dass auch die schönsten Lösungen ziemlich sinnlos sind, wenn ich mich nicht dafür interessiere, was es zu lösen und wovor es sich zu schützen gilt.
Gespräche über Verlust und Vertreibung, persönliche Erzählungen darüber, was es heißt, Klimaflüchtling zu sein, können helfen, die Weigerung aufzubrechen, sich mit der Realität von Loss and Damges zu befassen. Denn Verlust gehört nicht gerade zu den Hits im Repertoire der Moderne. Dabei hat uns Verlust, Zerstörung und Vergänglichkeit immer begleitet und nicht etwa erst seit dem Klimawandel. Gerade in Städten, wo ständig etwas verschwindet und verloren geht, um etwas Neuem Platz zu machen, gehören sie genauso zur Identität wie das gemeinsam Erreichte und Geschaffte. Das sollte Anlass zur Solidarität geben. In Lajos Talamontis Text heißt es deswegen am Ende: „Dein Platz ist die Hausgemeinschaft allen irdischen Lebens. Das Fortbestehen. Die Weitergabe. Du bist jetzt Teil einer informierten Ungeduld. Du bist keine Außerirdische, du bist Mitbewohnerin in der kritischen Zone, einer dünnen Schicht zwischen Erde und Weltraum, der einzigen im bekannten Universum, in der dein Leben möglich ist.“
Termine
02.+03. Mai 2024 / 18:45 Uhr
TD Berlin
Bring dein Phone&Kopfhörer mit
Credits
Konzept: Jan-Philipp Possmann und Lajos Talamonti
Regie: Lajos Talamonti Sound: Daniel Dorsch Ausstattung: Michael Graessner
Klimabotschafter*innen: Mahyar Abdollahpour, Huzeyfe Birdal, Ivanko Bobeiko, Isabel Galindo, David Kamgang, Seuri Sanare Lukumay, Stanley Pierre Pizzar, Dayana Qiceno, Lothar Schillak und Lajos Talamonti
Eine Produktion von: TD Berlin, Inititative KlimaGesichter, Lajos Talamonti
Der unterirdische Wald der Urzeiten, heute verbrannt, ragt als Beton und Stahl in die Luft, hat seine Wärme abgegeben in die
Klimazone Alexanderplatz –Stoffwechsel einer Großstadt
Presse
Julia Vismann/ Radio 1
„…Beim Walk denkst du über dein eigenes Konsumverhalten nach, durch das eben CO2 emittiert wird, was dann die Erderwärmung vorantreibt und dabei triffst du auf Menschen, die wegen der Folgen des Klimawandels aus ihren Ländern fliehen mussten. ZB Stanley, treffen wir im 7.Stock auf dem Dach des Parkhauses und er sagte, er sei wegen des Wetters nach Deutschland gekommen, hört sich erstmal ein bisschen absurd an, aber er meinte eben, Hurricanes und Erdbeben haben Haiti sosehr zerstört, dass er nicht mehr dort leben kann. Oder wir trafen auch auf Ivanko Bobeiko, den haben wir an der Weltzeituhr getroffen, ein Klimaaktivist aus der Ukraine, der sich fragt, wir sein Land nach dem Krieg wieder aufgebaut werden wird, hoffentlich nicht aus Beton und Plastik….“